Ich sitze im ICE Hamburg-Berlin weil Flixbus coronabedingt nicht fährt. Der ICE hat eine andere Klientel als Flixbus, die Fahrgäste sind deutlich weißer, es riecht nach trübem Apfelsaft und Mittelstand.
Auf halber Strecke Fahrkartenkontrolle. Sollte man es nicht rechtzeitig auf Klo schaffen, um der Dame mit Kurzhaarfrisur (meistens heißt sie Corinna) zu entkommen, klappt es wie heute manchmal auch, sie solange vollzulabern und über das In-Bahn-Bezahlsystem (Es ist 2020 und die Bahn akzeptiert auch bei Preisen von 74,35€ nur Bargeld) auszufragen, dass sie vor lauter Aufregung vergisst nach der Karte zu fragen und weiterläuft.
Hinter mir wird jemand beim halb-Schwarzfahren erwischt, er hat sich mit einer fremden Bahncard 50 einen ‚Sonderpreis erschlichen‘, wie Corinna nicht müde wird ihm immer wieder zu erklären – Ihre Stimme bebt, es ist deutlich zu spüren, dass Corinna das Wohlergehen der Deutschen Bahn AG ein ganz persönliches Anliegen ist. Begrabt sie in Uniform.
Der Schwarzfahrer ist Immigrant. Ach verdammt, denke ich. Der Arme. Mein Vater hat mir immer eingeredet, dass Kanacken sich doppelt so gut benehmen müssen wie Deutsche, weil wir in den Augen der Deutschen direkt unseren gesamten Kulturkreis in den Dreck ziehen, wenn wir mal bei was erwischt werden. Ich habe ihm geschworen, keine Scheiße zu bauen, worauf er den Kopf schüttelte und lachte: ‚Quatsch! Einfach nicht erwischen lassen.‘
Der Bruder im Zug hat diesen Vortrag vielleicht nie bekommen, sein Deutsch ist auch etwas gebrochen, vielleicht weiß er gar nicht, was genau er falsch gemacht hat. ‚Personengebunden und daher nicht auf Fremde übertragbar‘ ist auch ein ganz schön sperriger Satz, könnte ich nicht auf französisch übersetzen und ich hatte Leistungskurs.
Plötzlich taucht ein Ungetüm von einem Polizisten auf. Er misst locker zwei Meter und muss im Krabbengang seitlich durch den Waggon tippeln, damit sein Schlagstock auf der einen und die Pistole auf der anderen Seite den unschuldigen Mittelschichtsalmans auf den Gangsitzen nicht ins Gesicht klatschen, was ich natürlich extrem gerne sehen würde: Wir spüren ja bei den Corona-Demonstrationen, was passiert, wenn man der weißen Mittelschicht auch nur verbietet, zwei Monate lang mit den Jungs in der Kneipe Fußi zu glotzen.
Ich stelle mir vor, wie die Dienstwaffe eine Mittvierzigerin leicht am Kinn streift und diese daraufhin zuerst schreiend in sich zusammenbricht, um dann mit Feuer in ihren Augen sämtliche Artikel des BGB in das Gesicht des heillos überforderten Polizistenogers zu brettern, bis dieser vor lauter Hilflosigkeit mitten im Waggon anfängt zu heulen, was wiederum einen Sonderalarm im Dezernat auslöst, weshalb Sekunden später ein GSG Sondereinsatzkommando in einem Helikopter über dem ICE erscheint und den Polizisten (da er eine menschliche Regung gezeigt hat) per Kopfschuss aus dem Verkehr zieht. Leider geschieht nichts von alledem, die Pistole bekommt heute keinen Menschenkontakt und ein paar Minuten später wird der Schwarzfahrer abgeführt.
Hinter mir beginnen zwei Männer mittleren Alters in Hemden laut über das gerade Geschehene zu sprechen. Sie sind beide Typ Manager, da wir aber in der zweiten Klasse sitzen, können sie nicht allzu erfolgreich sein, das ist schließlich das höchste Zeichen der Anerkennung von geleisteter Arbeit in der Bundesrepublik: Die Fahrt in der ersten Klasse. Der Privatjet des kleinen Mannes.
Sie fangen laut an, darüber zu reden, dass wir in Deutschland langsam ‚französische Verhältnisse‘ bekämen und dass der Staat diese ganzen ‚Fremdvölker‘ nicht mehr unter Kontrolle hat.
Keiner sagt etwas.
Sie sprechen darüber, dass es für ‚die‘ wohl normal ist und dass ‚die‘ bei sich ja nichtmal ne Bahn hätten.
Niemand spricht auch nur ein einziges Wort.
Sie stimmen sich gegenseitig zu, dass genau das auch der Grund dafür ist, dass ‚überall da in Afrika und Arabien nur Chaos, Sodom und Gomorrha herrscht‘
Ich drehe mich um, schaue den Lauteren der beiden an, räuspere mich und bitte ihn darum, seinen Mund zu halten. Ganz ruhig, immer mit Augenkontakt, sage ich ihm, dass er seine rassistische Scheiße entweder für sich behalten oder seine Frau damit belästigen soll, aber hier drin hat er gefälligst ruhig zu sein. Ich brodle vor Wut, aber wenn ich jetzt ausraste oder ihm zeige, wie sehr mich sein Gelaber aufregt, hat er gewonnen. Er ist etwas baff, nörgelt mir dann irgendwas entgegen, wer ich denn sei und wer mir das Recht gibt blabla. Ich sage ihm ein letztes Mal, dass es jetzt reicht und drehe mich wieder um.
In meinem Kopf rauscht es. Warum sagt hier sonst keiner was? Warum halten hier gerade alle um mich herum schön die Fresse und glotzen in ihre Kindles? Hat sich Rasssismus inzwischen so sehr zu einem Teil der Normalität gemacht, dass sich diese zwei Wichser nicht mal schämen, ihrem geistigen Durchfall in der Öffentlichkeit freien Lauf zu lassen? Und wo zum Teufel ist die Polizei jetzt? Wo sind die Nachrichten in den Familienchats? Die weiße Mehrheitsgesellschaft hat keine Ahnung von Repression, deshalb geht sie auf einmal auf die Barrikaden, nur weil sie im Camp David Laden Mundschutz tragen müssen. Es muss ihr grundlegend an Empathie fehlen, weil die Existenz von Unterdrückung von Minderheiten in Deutschland anscheinend so weit außerhalb ihres Vorstellungsbereichs liegt, dass sie selbst dann ihr Maul nicht aufmachen, wenn exakt diese Repression genau vor ihnen Augen stattfindet, wenige Zentimeter entfernt.
Dass es sich hier um genau dasselbe Gedankengut handelt, dass die AfD zur drittstärksten Kraft gemacht hat und seit 1990 über 200 Menschen in Deutschland das Leben gekostet hat, scheint für viele eine zu große Denkleistung zu sein und ein Rassist ist wohl erst dann wirklich ein Rassist, wenn er mit Hakenkreuz-Tattoo, Deutschlandtrikot und brenndem Molotowcocktail vor’m Flüchtlingsheim erwischt wird und dabei laut die erste Strophe der Nationalhymne singt.
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